Das weiße Kalb

Das weisse Kalb

In Tipperary liegt ein Berg so seltsam gestaltet, wie einer auf der Welt. Seine Spitze besteht aus einer kegelförmigen Kuppe, auf der ein kleines Haus zur Erlustigung in den Sommertagen aufgebaut war, das jetzt auch verödet sein mag.

Bevor man aber jenes Haus baute oder einen Acker besäte, war dort ein geräumiger Weideplatz eingehegt, wo ein Hirte Tag und Nacht seine Herde hütete. Grund und Boden gehörte von Alters her den Elfen und die verdroß es, daß der Rasen, auf dem sie sonst behend und luftig umher gesprungen waren, von den schweren Hufen der Ochsen und Kühe zertreten wurde. Das Gebrüll der Herde klang ihren Ohren unerträglich und die Königin des Volkes entschloß sich endlich selbst, die Ankömmlinge wieder zu vertreiben. Als die Erntenächte kamen, der Mond über den Berg sein Licht ausgoß, das Vieh still und gesättigt auf dem Boden lag und der Hirte, in seinen Mantel eingewickelt, hin und her sinnend sich der Gesellschaft der Sterne erfreute, die über ihm flimmerten, da zeigte sie sich in verschiedenen, aber immer häßlichen und furchtbaren Gestalten vor ihm tanzend. Einmal erschien sie als ein mächtiges Roß mit Adlerflügeln und einem Drachenschweif, laut zischend und Feuer ausatmend. Plötzlich verwandelte sie sich in ein kleines Männchen, lahm an einem Bein, mit einem Ochsenkopf und von einer lodernden Flamme umkreist. Dann war sie ein großer Affe mit Entenfüßen und schlug ein Rad dazu, wie ein welscher Hahn. Aber ich könnte tagelang erzählen, wenn ich sagen sollte, was für Gestalten sie noch annahm. Sie brüllte, oder wieherte, oder blockte, oder heulte, oder krächzte, wie bisher noch niemand auf der Welt hatte brüllen, wiehern, blocken, heulen oder krächzen hören. Der arme Hirte bedeckte sein Gesicht, aber was half ihm das! Sie hauchte ihn nur einmal an und das Stück Mantel, das er mit aller Kraft vor die Augen drückte, war weggeblasen; nun stand er da, ohne sich zu rühren; nicht einmal seine Augen konnte er zuschließen; von unbekannter Macht gefesselt, mußte er diese schrecklichen Gesichte anstarren, bis sich sein Haar aufrecht erhob und die Zähne im Munde klapperten. Das Vieh aber riß wütend aus, als wäre es von Bremsen gestochen und der Spuk dauerte, bis die Sonne über den Hügel schien.

Die armen Tiere magerten aus Mangel an Ruhe ganz ab, auch wollte das Futter bei ihnen nicht anschlagen; dazu kam ein Unfall auf den andern. Keine Nacht verging, daß nicht einige Stücke in einen Sumpf fielen, lahm wurden und gar umkamen; oder sie gerieten in den Fluß und ertranken. Kurz die Unfälle nahmen kein Ende und was die Sache noch schlimmer machte, es war kein Hirte mehr zu finden, der Nachts bei dem Vieh bleiben wollte. Eine einzige Erscheinung des Geistes reichte hin, auch dem Unverzagtesten die Besinnung zu rauben. Der Eigentümer des Weideplatzes wußte nicht, was er anfangen sollte. Er bot doppelten, dreifachen, ja vierfachen Sold, aber kein Geld konnte jemand bewegen, dem Grausen sich auszusetzen, das der Anblick des Geistes erregte. Sie selbst freute sich über den glücklichen Erfolg ihres Unternehmens und ließ mit ihren Quälereien nicht nach. Da die Herde immer kleiner wurde und kein Mensch mehr wagte, in dem Bereich der Geister zu verweilen, so kam das stille Volk in großer Anzahl zurück. Jetzt sprangen sie wieder so lustig, wie sonst umher, berauschten sich an den Tautropfen der Eicheln und feierten ihre Feste unter den geräumigen Schirmen der Pilze.

Der arme, verwirrte Landmann wußte um sein Leben keinen Rat. Sein Vermögen nahm von Tag zu Tag ab, seine Leute waren in Furcht gejagt und der Termin, wo er die Pacht bezahlen sollte, rückte herbei. Was Wunder, daß er ganz trübselig aussah und sorgenvoll auf der Landstraße dahin wandelte. Nun lebte in der Gegend ein Mann, namens Lorenz Hulahan, der blies die Pfeife besser als irgend einer in funfzehen Kirchsprengeln. Ein toller Rauschenblatt war Lorenz, aber sich fürchten das hatte er noch nicht gelernt. Reichte ihm jemand eine gute Herzstärkung, so nahm er es mit dem Teufel selber auf. Er hätte sich einem wütenden Ochsen entgegengestellt und allein gegen einen ganzen Jahrmarkt geschlagen. Diesem Lorenz begegnete der Pächter einmal auf seinen sorgvollen Gängen, und auf die Frage was denn die Ursache seines Kummer sei, erzählte er ihm sein Mißgeschick.

„Wenns weiter nichts ist“, rief Lorenz, „so gebt euerm Herzeleid den Abschied! Wären noch mehr Elfen auf dem Berg, als Kartoffelblüten in Eliogurty, sie sollten mich nicht in Furcht jagen. Ich müßte ja ein rechter Bärenhäuter sein, ich, der ich keinen Menschen mit Fleisch und Bein fürchte, wollte ich vor einem solchen Balg von Gespenst nur daumensbreit zurückweichen.“

„Rede nicht so frech, Lorenz“, erwiderte der andere, „du weißt nicht, wers mit anhört, doch wenn du deine Worte wahr machst und meine Herde eine Woche auf dem Rücken des Bergs hütest, so soll deine Hand in meine Schüssel tauchen, so lange bis die Sonne zu einem dünnen Lichtchen herabgebrannt ist.“

Der Handel ward abgeschlossen und als der Mond hinter dem Felsen hervorkam, stieg Lorenz auf den Berg. Der Pächter hatte ihm erst vorgestellt, was das Haus vermochte, auch mit einem frischen Trunk sein Herz gestärkt. Lorenz nahm oben seinen Sitz auf einem großen Stein unter einer Höhle, den Rücken gegen den Wind und holte seine Pfeifen hervor. Er hatte noch nicht lange daraufgeblasen, als sich die Stimme der Elfen hören ließ, tönend wie ein leiser Strom von Musik. Nun aber brachen sie in lautes Gelächter aus und Lorenz konnte deutlich einen sagen hören: „Was, wieder ein Mensch in dem Elfenkreis! Geh hin, Königin, und laß ihn seine Verwegenheit fühlen!“
Sie flogen fort und Lorenz fühlte, wie sie gleich einem Mückenschwarm vorbeizogen; als er aufblickte, sah er zwischen sich und dem Mond eine große, schwarze Katze, die auf den Spitzen ihrer Pfoten stand, einen krummen Buckel machte und miaute, daß es klang, wie das Geräusch einer Wassermühle. Dann schwoll sie auf bis zu den Wolken und auf ihrem linken Hinterbein sich herumdrehend wirbelte sie so lange, bis sie auf den Boden fiel, von welchem sie in der Gestalt eines Lachses aufsprang, der eine weiße Binde um den Hals hatte und ein paar Stulp-Stiefel an. „Nur zu, mein Schatz“, sagte Lorenz, „willst du tanzen, so will ich pfeifen!“ und setzte an. So verwandelte sie sich bald in dieses bald in jenes Ungeheuer, aber Lorenz blies immer zu, ohne sich irre machen zu lassen. Zuletzt verlor sie die Geduld, wie Frauen pflegen, auf deren Schelten man nicht achtet, und verwandelte sich in ein Kälbchen, so weiß wie Milch und mit Augen so sanft, wie die meiner Liebsten. Sie kam spielend und schmeichelnd herbei und dachte ihn in der Güte von seinem Geschäft abzubringen und ihm dann einen Streich zu spielen; aber Lorenz war nicht zu überlisten und als sie herankam, setzte er seine Pfeifen ab und sprang auf ihren Rücken.
Wenn du von dem Gipfel des Elfenberges westwärts nach dem Weltmeer schaust, so erblickst du den königlichen Fluß Shannon, wie er, gleich einer See sich ausbreitend, in stolzem Lauf durch die Stadt Limerick fließt, um sich endlich mit dem Ozean zu vermischen. Der Mond schien hell und glänzend über das ferne Gebirg. Fünfzig Boote schwammen hin und her auf dem lieblichen Strom und der Gesang der Fischer stieg fröhlich von den Ufern in die Höhe.

Lorenz saß, wie ich schon erzählt habe, auf den Hufen des weißen Kalbs und die Elfin wollte ihren Vorteil nutzen. Von der Spitze des Bergs sprang sie in einem Satz über den Fluß Shannon hinweg, durchflog in einer Sekunde drei volle Stunden und sich auf einem entlegnen Damm niederlassend, schlug sie aus und warf den Lorenz auf den weichen Rasen. Aber wie er da lag, sah er ihr gerade in das Gesicht, strich sich über die Haare und rief: „Wahrhaftig gut gemacht! Das war kein schlechter Sprung für ein Kalb!“

Sie betrachtete ihn einen Augenblick, dann nahm sie ihre wahre Gestalt wieder an und sprach: „Lorenz, du bist ein tüchtiger Bursche, willst du den Weg auch wieder zurück machen?“„Freilich“, antwortete er, „wenn Ihr es zufrieden seid.“ Sie verwandelte sich wieder, Lorenz setzte sich auf den Rücken des weißen Kalbs und mit einem zweiten Sprunge waren sie auf der Bergspitze zurück.
Da sprach die Elfin in ihrer natürlichen Gestalt: „Du hast dich so unerschrocken gezeigt, Lorenz, daß, so lange du die Herden hier auf diesem Berg hütest, du weder von mir noch einem der meinigen sollst gestört werden. Der Tag dämmert, geh hinab zu deinem Herrn und sage ihm das; und wenn du noch sonst einen Wunsch hast, will ich ihn erfüllen.“ Darauf verschwand sie. Die Elfe hielt Wort. Solange Lorenz lebte, zeigte sie sich nicht auf dem Berg. Aber er ward ihr auch nicht durch Bitten lästig. Er blies seine Pfeifen, trank auf seines Herrn Kosten, ruhte sich hinter dem Ofen aus und sah dann und wann nach der Herde. Er starb endlich und ward in einem grünen Tal der schönen Landschaft Tipperary begraben. Ob das stille Volk nach seinem Tode wieder auf den Berg gezogen ist, kann ich nicht sagen.

Quelle:
Irische Elfenmärchen (Fairy legends and traditions of the South of Ireland – 1825) von T. Croker
in der dt. Übersetzung der Brüder Grimm (1826)