Der alte Zauberer und seine kinder

der alte Zauberer und seine Kinder

Es lebte einmal ein böser Zauberer, der hatte vorlängst zwei zarte Kinder geraubt, einen Knaben und ein Mägdlein, mit denen er in einer Höhle ganz einsam und einsiedlerisch hauste. Diese Kinder hatte er, Gott sei’s geklagt, dem Bösen zugeschworen, und seine schlimme Kunst übte er aus einem Zauberbuche, das er als seinen besten Schatz verwahrte.
Wenn es nun aber geschah, daß der alte Zauberer sich aus seiner Höhle entfernte, und die Kinder allein in derselben zurückblieben, so las der Knabe, welcher den Ort erspäht hatte, wohin der Alte das Zauberbuch verbarg, in dem Buche, und lernte daraus gar manchen Spruch und manche Formel der Schwarzkunst, und lernte selbst ganz trefflich zaubern. Weil nun der Alte die Kinder nur selten aus der Höhle ließ und sie gefangen halten wollte bis zu dem Tage, wo sie dem Bösen zum Opfer fallen sollten, so sehnten sie sich um so mehr von dannen, berieten miteinander, wie sie heimlich entfliehen wollten, und eines Tages, als der Zauberer die Höhle sehr zeitig verlassen hatte, sprach der Knabe zur Schwester: „Jetzt ist es Zeit, Schwesterlein! Der böse Mann, der uns so hart gefangen hält, ist fort, so wollen wir uns jetzt aufmachen und von dannen gehen, soweit uns unsere Füße tragen!“

Dies taten die Kinder, gingen fort und wanderten den ganzen Tag.

Als es nun gegen den Nachmittag kam, war der Zauberer nach Hause zurückgekehrt und hatte sogleich die Kinder vermißt. Alsobald schlug er sein Zauberbuch auf und las darin, nach welcher Gegend die Kinder gegangen waren, da hatte er sie wirklich fast eingeholt; die Kinder vernahmen schon seine zornig brüllende Stimme, und die Schwester war voller Angst und Entsetzen und rief: „Bruder, Bruder! Nun sind wir verloren; der böse Mann ist schon ganz nahe!“ Da wandte der Knabe seine Zauberkunst an, die er gelernt hatte aus dem Buche; er sprach einen Spruch, und alsbald wurde seine Schwester zu einem Fisch, und er selbst wurde ein großer Teich, in welchem das Fischlein munter herumschwamm.

Wie der Alte an den Teich kam, merkte er wohl, daß er betrogen war, brummte ärgerlich: „Wartet nur, wartet nur, euch fange ich doch!“ und lief spornstreichs nach seiner Höhle zurück, Netze zu holen, und den Fisch darin zu fangen. Wie er aber von hinnen war, wurden aus dem Teich und Fisch wieder Bruder und Schwester, die bargen sich gut und schliefen aus und am andern Morgen wanderten sie weiter, und wanderten wieder einen ganzen Tag.

Als der böse Zauberer mit seinen Netzen an die Stelle kam, die er sich wohl gemerkt hatte, war kein Teich mehr zu sehen, sondern es lag eine grüne Wiese da, in der es wohl Frösche, aber keine Fische zu fangen gab; da wurde er noch zorniger wie zuvor, warf seine Netze hin, und verfolgte weiter die Spur der Kinder, die ihm nicht entging, denn er trug eine Zaubergerte in der Hand, welche ihm den richtigen Weg zeigte.

Und als es Abend war, hatte er die wandernden Kinder beinahe wieder eingeholt; sie hörten ihn schon schnauben und brüllen, und die Schwester rief wieder: „Bruder, lieber Bruder! Jetzt sind wir verloren, der böse Feind ist dicht hinter uns!“

Da sprach der Knabe wiederum einen Zauberspruch, den er aus dem Buche gelernt, und da ward aus ihm eine Kapelle am Weg und aus dem Mägdlein ein schönes Altarbild in der Kapelle.

Wie nun der Zauberer an die Kapelle kam, merkte er wohl, daß er abermals geäfft war, und lief fürchterlich brüllend um dieselbe herum; er durfte sie aber nicht betreten, weil das immer im Pakt der Zauberer mit dem Bösen stand, daß sie niemals eine Kirche oder eine Kapelle betreten durften.

„Darf ich dich auch nicht betreten, so will ich dich doch mit Feuer anstoßen und auch zu Asche brennen!“ schrie der Zauberer und rannte fort, sich aus seiner Höhle Feuer zu holen.

Während er nun fast die ganze Nacht hindurch rannte, wurden aus der Kapelle und dem schönen Altarbild wieder Bruder und Schwester; sie bargen sich und schliefen, und am dritten Morgen wanderten sie weiter und wanderten den ganzen Tag, wänrend der Zauberer, der einen weiten Weg hatte, ihnen aufs neue nachsetzte. Als er mit seinem Feuer dahin kam, wo die Kapelle gestanden, stieß er mit der Nase an einen großen Steinfelsen, der sich nicht mit Feuer anstoßen und zu Asche verbrennen ließ, und dann rannte er mit wütenden Sprüngen auf der Spur der Kinder weiter fort.

Gegen Abend war er ihnen nun ganz nahe, und zum drittenmal zagte die Schwester und gab sich verloren; aber der Knabe sprach wieder einen Zauberspruch, den er aus dem Buche gelernt, da ward er eine harte Tenne, darauf die Leute dreschen, und sein Schwesterlein war in ein Körnlein verwandelt, das wie verloren auf der Tenne lag.

Als der böse Zauberer herankam, sah er wohl, daß er zum drittenmal geäfft war, besann sich aber diesmal nicht lange, lief auch nicht erst wieder nach Hause, sondern sprach auch einen Spruch, den er aus dem Zauberbuche gelernt hatte; da ward er in einen schwarzen Hahn verwandelt, der schnell auf das Gerstenkorn zulief, um es aufzupicken; aber der Knabe sprach noch einmal einen Zauberspruch, den er aus dem Buche gelernt, da wurde er schnell ein Fuchs, packte den schwarzen Hahn, ehe er noch das Gerstenkorn aufgepickt hatte, und biß ihm den Kopf ab, da hatte der Zauberer, wie dies Märlein, gleich ein Ende.

Quelle:
Märchenbuch (vierzehnte Auflage) – L. Bechstein (1855)