Es ist ein Unterschied
Kurzfassung
Einer Prinzessin aus einem fernen Königreich, fällt ihre goldene Kugel beim Spiel in den Brunnen. Ein Frosch bietet sich an Ihr zu helfen und die goldene Kugel wieder zurückzuholen. Als Belohnung muss Sie ihm dafür versprechen, seine Spielkameradin zu werden und Ihr Tisch und Ihr Bett mit ihm zu teilen. Doch als sie die Kugel zurück hat, läuft sie davon. Später am Tag hat der Frosch es geschafft Ihr in das Schloss des Königs, Ihrem Vater, zu folgen und erinnert Sie an Ihr Versprechen.
Es ist ein Unterschied
Es war im Monat Mai und der Wind wehte noch kalt. „Der Frühling ist da!“ sprachen Büsche und Bäume, Felder und Wiesen. Es wimmelte von Blüten bis oben an der Hecke. Und just da sprach der Frühling selbst. Er sprach von einem kleinen Apfelbäumchen herab. Dieses Apfelbäumchen, welches nur einen einzigen, von rosenroten Knospen überladenen Zweig getrieben hatte, wusste wie schön es wohl war.
Das liegt im Blatte gerade so wie im Blute. Deshalb war es auch durchaus nicht überrascht, als plötzlich auf dem Wege dicht vor ihm ein herrschaftlicher Wagen anhielt und die junge Gräfin in demselben sagte, der Apfelbaum wäre das Lieblichste, was man sehen könnte, er wäre der Frühling selbst in seiner herrlichsten Offenbarung. Und der Zweig wurde abgebrochen und sie hielt ihn in ihrer feinen Hand und beschattete ihn mit ihrem seidenen Sonnenschirme. So fuhren sie nach dem Schlosse, wo es hohe Säle und reich geschmückte Zimmer gab. Wundervolle, weiße Vorhänge flatterten an den offenen Fenstern und prächtige Blumen standen in glänzenden, durchsichtigen Vasen und in eine von diesen, die schimmerte, als ob sie aus frisch gefallenem Schnee ausgeschnitten wäre, wurde der Apfelzweig zwischen frische, lichte Buchenzweige gesetzt; es war eine Lust ihn anzusehen.
Da wurde der Zweig stolz, und das war ja ganz begreiflich. Es gingen viele Leute, von mancherlei Gattung durch die Zimmer, und je nach dem Ansehen, in welchem sie standen, durften sie ihre Bewunderung aussprechen. Manche von Ihnen sagten durchaus nichts und Andere sagten zu viel, und der Apfelzweig merkte, dass zwischen den Menschen ebenso gut ein Unterschied gäbe, wie zwischen den Gewächsen, und da er gerade an das offene Fenster gesetzt war, von wo aus er sowohl in den Garten, als auf das Feld hinausblicken konnte, so hatte er genug Blumen und Pflanzen zur Betrachtung und Überlegung. Da standen reiche und arme, selbst einige allzu arme. „Arme, verworfene Kräuter!“ sagte der Apfelzweig, „da ist wahrlich ein Unterschied gemacht. Wie unglücklich mögen sie sich fühlen, falls diese Art überhaupt fühlen kann, wie ich und meinesgleichen zu fühlen vermag. Da ist wahrlich ein Unterschied gemacht. Aber er muss gemacht werden, sonst wären ja alle gleich!“
Der Apfelzweig betrachtete mit einem gewissen Mitleid besonders auf eine Art Blumen, die in großen Mengen auf Feldern und an Gräben wuchsen. Niemand band sie zu einem Strauß, sie waren viel zu gewöhnlich dazu, ja man konnte sie sogar zwischen den Pflastersteinen finden. Sie schossen überall empor, wie das ärgste Unkraut und hatten zum Überfluss noch den hässlichen Namen „des Teufels Butterblumen.“
„Armes, verachtetes Gewächs!“ sagte der Apfelzweig, „du kannst nichts dafür, dass du wurdest, was du wurdest, dass du so gewöhnlich bist. Aber es ist mit den Gewächsen wie mit den Menschen; es müssen Unterschiede sein!“
„Unterschiede,“ sagte der Sonnenstrahl und küsste den blühenden Apfelzweig, küsste aber auch des Teufels gelbe Butterblumen draußen auf dem Felde, alle Brüder des Sonnenstrahls küssten sie, die armen Blumen, wie die reichen. Der Apfelzweig hatte nie über des lieben Gottes unendliche Liebe gegen alles, was in ihm lebt und webt, nachgedacht; der Strahl des Lichtes wusste es besser: „Du siehst nicht weit! Du siehst nicht klar!“ — sagte er. „Welches ist das verworfene Kraut, das du besonders beklagst?“ „Des Teufels Butterblumen!“ sagte der Apfelzweig. „Nie werden sie in einen Strauß gebunden, sie werden mit Füßen getreten, es gibt zu viele davon, und wenn sie Samen tragen, fliegt er in Wollenflocken dahin und hängt sich den Leuten an die Kleider. Unkraut ist es!“
Über das Feld kam plötzlich eine ganze Schar Kinder daher. Das jüngste von Ihnen war noch so klein, dass es von den anderen getragen wurde. Als es in das Gras zwischen die gelben Blumen gesetzt wurde, lachte es laut vor Freude, zappelte mit den kleinen Beinchen, wälzte sich umher, pflückte nur die gelben Blumen und küsste sie in süßer Unschuld. Die etwas größeren Kinder brachten die Blumen von den Stielen und bogen Ringe aus denselben, bis endlich, Glied an Glied, eine ganze Kette daraus wurde, mit welcher sie sich schmückten. Aber die größeren Kinder pflückten vorsichtig die abgeblühten Stängel, welche die flockenartig zusammengesetzte Samenkrone trugen, die lose, luftige, wollige Blume, welche wie ein kleines Kunstwerk aus den feinsten Federn, Flocken oder Daunen gebildet dasteht. Sie hielten sie an den Mund, um sie mit einem Hauch wegzublasen. Wer es fertig brächte, bekäme neue Kleider, ehe das Jahr um wäre, hatte Großmutter gesagt.
Die verachtete Blume war bei dieser Gelegenheit ein anerkannter Prophet. „Siehst du?“ sagte der Sonnenstrahl, „siehst du die Schönheit, siehst du Ihre Macht?“ „Ja, für Kinder!“ sagte der Apfelzweig. Da kam ein altes Mütterchen auf das Feld hinaus und grub mit ihrem stumpfen grifflosen Messer rings um die Wurzel der Blumen und zog sie heraus. Einige der Wurzeln wollte sie als Zusatz für Ihrem Kaffee benutzen, andere wollte sie dem Apotheker als Heilmittel bringen und Geld verdienen.
„Schönheit ist doch etwas Höheres!“ sagte der Apfelzweig. „Nur die Auserwählten kommen in das Reich des Schönen! Es gibt Unterschiede zwischen den Gewächsen, wie es Unterschied zwischen den Menschen gibt.“ Der Sonnenstrahl sprach von Gottes unendlicher Liebe gegen alles Erschaffene und zu allem, was Leben hat, und dass er in Zeit und Ewigkeit alles gleichmäßig verteilt hätte.
„Ja, das ist nur Ihre Meinung!“ sagte der Apfelzweig. Und betraten Leute das Zimmer, und die junge Gräfin kam, sie, die den Apfelzweig so schön in die durchsichtige Vase gestellt hatte, wo das Sonnenlicht ihn bestrahlen konnte. Sie brachte eine Blume mit, oder was es sonst sein mochte, die zwischen drei oder vier Blättern, umringt versteckt war, damit sie kein Zug oder Windhauch verletzen könnte. Dabei wurde sie mit einer solchen Sorgfalt und Vorsicht getragen, wie sie nicht einmal dem feinen Apfelzweig zu Teil geworden war. Ganz behutsam wurden nun die großen Blätter fortgenommen, und was kam zum Vorschein? Die kleine flockige Samenkrone der gelben verachteten Butterblume! Sie war es, die sie so sorgfältig gepflückt hatte und so sorgsam trug, damit nicht einer der feinen Federpfeile, die gleichsam ihre Nebelhülle bilden und so lose sitzen, abgeblasen würde. Unversehrt und herrlich hatte sie nun dieselbe; sie bewunderte ihre schöne Gestalt, ihre luftige Klarheit, ihre ganze eigentümliche Zusammensetzung, ihre Schönheit, wenn die Krone vom Winde fortgeblasen würde.
„Sieh doch, wie wunderbar schön der liebe Gott sie geschaffen hat!“ sagte die Gräfin. „Ich will sie mit dem Apfelzweige malen; wohl ist dieser unendlich schön, aber in anderer Weise hat auch diese arme Blume vom lieben Gott gar viele Schönheiten erhalten. Wie verschieden sie auch sind, dennoch sind sie beide Kinder im Reiche der Schönheit.“
Und der Sonnenstrahl küsste die arme Blume und küsste den blühenden Apfelzweig, dessen Blätter dabei zu erröten schienen.
Quelle:
Ein Originalmärchen von Hans-Christian Andersen aus „Märchen“ (1844)