Das Mädchen ohne Hände​

(KHM 31)

Ein armer Müller gibt einem geheimnisvollen Fremden im Wald ein gefährliches Versprechen. Drei Jahre später fordert der Teufel das Versprochene ein – nicht den Apfelbaum, sondern die Tochter der Müllerin. Um sie zu retten, muss der Vater schwere Opfer bringen. Die Müllerstochter, eine fromme und reine junge Frau, begegnet dem Teufel mit unerschütterlichem Glauben. Sie wird vom König entdeckt, der sie zur Königin macht. Doch der Teufel versucht erneut, die Familie auseinanderzureißen. Durch göttliche Hilfe und die Liebe des Königs finden sie schließlich wieder zueinander und leben fortan in Glück und Harmonie.

Die Müllerstochter und der Teufel

Die Macht des Glaubens

Ein Müller war immer ärmer geworden und besaß nur noch seine Mühle und einen alten Apfelbaum, der hinter dem Haus stand. Eines Tages ging er in den Wald, um Holz zu sammeln. Plötzlich trat ein unbekannter Mann zu ihm und sprach: „Warum schuftest du hier allein? Ich kann dich reich machen, wenn du mir versprichst, was hinter deiner Mühle steht.“

„Was könnte hinter meiner Mühle schon sein außer meinem Apfelbaum?“ dachte der Müller. Er stimmte zu und versprach dem Fremden, was er wollte. Der Mann lachte höhnisch und sagte: „In drei Jahren werde ich zurückkommen und holen, was mir zusteht.“ Dann verschwand er.

Als der Müller nach Hause kam, staunte er nicht schlecht: „Woher kommt der plötzliche Wohlstand in unserem Haus?“ fragte seine Frau. „Alle Kisten sind voll, aber niemand hat etwas gebracht.“

Der Müller erzählte ihr, was der Fremde im Wald gesagt hatte, und dass er ihm den Apfelbaum versprochen habe. Doch seine Frau erschrak: „Das war der Teufel! Er meinte nicht den Apfelbaum, sondern unsere Tochter, die dort hinten kehrte.“

Die Müllerstochter war ein schönes, frommes Mädchen, das sich in den drei Jahren stets in Gottesfurcht und Reinheit geübt hatte. Als der Tag kam, an dem der Teufel sie holen wollte, wusch sie sich noch einmal und malte einen Schutzkreis mit Kreide um sich. Doch als der Teufel erschien, konnte er ihr nicht nahekommen. Wütend sagte er zum Müller: „Tu ihr das Wasser ab, dann habe ich Macht über sie!“ Der Müller zögerte, tat es aber aus Angst.

Am nächsten Tag kam der Teufel zurück, aber die Tochter hatte auf ihre Stümpfe geweint, und sie waren wieder rein. Wütend drohte der Teufel dem Müller: „Hau ihr die Hände ab, sonst wird sie mir entkommen!“ Der Vater konnte es kaum fassen: „Wie könnte ich meinem eigenen Kind die Hände abnehmen?“ Doch der Teufel drohte ihm: „Wenn du es nicht tust, hole ich dich selbst.“ In großer Angst versprach der Müller, dem Teufel zu gehorchen.

Er ging zu seiner Tochter und sagte: „Mein Kind, ich muss dir die Hände nehmen, sonst führt der Teufel mich fort. Bitte verzeih mir!“ Die Tochter antwortete ruhig: „Vater, tu, was du tun musst. Ich bin dein Kind, und ich vertraue dir.“

Der Teufel kam zum dritten Mal, doch diesmal hatte die Tochter so viel geweint, dass ihre Stümpfe wieder rein waren. Der Teufel, der keine Macht mehr über sie hatte, verschwand frustriert. Der Müller sprach zu seiner Tochter: „Durch dich habe ich Reichtum erlangt, und ich werde dich zeitlebens umsorgen.“ Doch sie antwortete: „Ich kann hier nicht bleiben. Ich werde gehen. Mitleidige Menschen werden mir helfen.“

Mit den verstümmelten Armen hinter ihrem Rücken band sie sich das Kind auf den Rücken und machte sich mit der aufgehenden Sonne auf den Weg. Den ganzen Tag wanderte sie, bis es Nacht wurde. Schließlich fand sie einen königlichen Garten, in dem herrliche Früchte wuchsen. Sie war hungrig und bat Gott um Hilfe. Plötzlich erschien ein Engel, öffnete den Graben um den Garten und ermöglichte es ihr, hindurchzugehen.

Im Garten fand sie einen Baum mit glänzenden Birnen. Obwohl diese alle gezählt waren, pflückte sie eine, um ihren Hunger zu stillen. Der Gärtner beobachtete sie, aber als er den Engel sah, fürchtete er sich und schwieg.

Am nächsten Morgen bemerkte der König, dass eine Birne fehlte, und fragte den Gärtner. Der erzählte ihm von der „Geisterscheinung“, die eine Birne gegessen hatte, und erklärte, er habe sich nicht getraut, sie anzusprechen, weil er einen Engel gesehen habe.

Der König war neugierig und beschloss, in der folgenden Nacht zu wachen, um den „Geist“ zu ergründen. Zusammen mit einem Priester verbrachte er die Nacht im Garten. Um Mitternacht kam das Mädchen wieder, und der Engel stand bei ihr. Der Priester trat vor und fragte: „Bist du von Gott oder vom Teufel gesandt?“ Die Müllerstochter antwortete: „Ich bin kein Geist, sondern ein Mensch, der von allen verlassen wurde, aber nicht von Gott.“

Der König, bewegt von ihren Worten, nahm sie mit sich und brachte sie in sein Schloss. Sie verliebten sich ineinander, und er ließ ihr silberne Hände anfertigen, um ihre Verletzungen zu heilen. Sie wurde seine Königin.

Ein Jahr später, als der König in den Krieg zog, bat er seine Mutter, auf die schwangere Königin aufzupassen. Doch der Teufel hatte es erneut auf die Königin abgesehen und tauschte einen Brief des Königs mit einem falschen. Darin stand, dass die Königin ein abnormes Kind geboren hatte. Die Mutter des Königs konnte nicht glauben, dass ihre Schwiegertochter etwas Unrechtes getan hatte, und ließ sie dennoch fliehen, um ihr Leben zu retten.

Die Königin zog mit ihrem Kind fort, ging in einen Wald und betete zu Gott um Hilfe. Der Engel des Herrn führte sie zu einem kleinen Haus, das mit einem Schild beschildert war: „Hier ist jeder willkommen“. Eine weiße Jungfrau, ebenfalls ein Engel, nahm sie auf und kümmerte sich um sie und ihren Sohn. Der Engel heilte ihre abgehauenen Hände, und die Königin fand Frieden.

Der König kehrte aus dem Krieg zurück und erfuhr von den finsteren Machenschaften des Teufels. Voller Trauer über das Unrecht, das er seiner Frau und seinem Sohn zugefügt hatte, suchte er sie sieben Jahre lang. Schließlich fand er das kleine Haus im Wald, wo der Engel ihn empfing und ihm erklärte, dass seine Frau und sein Kind wohlauf seien.

Die beiden fanden sich wieder, und der Engel zeigte dem König die silbernen Hände seiner Frau. Nun war ihm klar, dass sie die wahre Königin war. Er schloss sie in seine Arme, voller Freude und Erleichterung. Gemeinsam kehrten sie in ihr Schloss zurück, wo sie ein großes Fest feierten, das den Beginn eines langen und glücklichen Lebens symbolisierte.

Quelle:
Brüder Grimm aus „Die schönsten Kinder- und Hausmärchen“ (Band 1) – 1857

(Der Text wurde von mir behutsam überarbeitet)

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